… keine unbedeutende, flache Musik

»Die Kriegsgefangene.«
Oper in zwei Acten von Karl Goldmark
(Erste Aufführung am Hofoperntheater am 17. Januar 1899.)

Ed. H. Wir hätten es nimmermehr geglaubt, daß Achilles noch eine neueste Auferstehung feiern werde. Zahllos sind die Opern, welche im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert von den Helden des trojanischen Krieges lebten. Der letzte »Achilles«, den wir selbst noch singen gehört, war der in Gluck’s »Iphigenie in Aulis«. Man erzählt, es habe seine Kampf-Arie bei der ersten Pariser Aufführung (1774) so zündend gewirkt, daß die Officiere im Parterre unwillkürlich ihre Säbel zogen. Als wir die Oper zuletzt in Wien hörten, dürften blos einige Kritiker den Bleistift gezogen haben, um im Textbuch so etwas wie »langweilig« zu notiren. Seit mehr als hundert Jahren lassen unsere Operncomponisten den Achilles sammt seinen Kriegsgefährten völlig in Ruhe. Zunächst weil man es endlich überdrüssig geworden, immer nur diesen antiken Helden ans der Opernbühne zu begegnen. Daneben wirkt aber als tiefer liegender Grund die moderne Anschauung von dramatischer Wahrheit. In der alten italienischen Oper waren Achilles, Hektor, Agamemnon nur glänzende Aushängschilder für eine Reihe von 10 bis 20 Bravour-Arien, die ein Tenor oder auch Sopran aus seiner goldenen Rüstung heraus über das Publicum ergoß. Hätte das ästhetische Empfinden jener Zeit eine strenge Charakterisirung der Personen und ihrer Umgebung gefordert, kein Jomelli oder Piccini würde an Achilles die Hand gelegt haben. Dieses ungeschriebene Gesetz dramatischer Wahrheit herrscht aber heute, principiell anerkannt und mehr oder weniger streng befolgt, in der Opern-Composition. Unsere Tondichter wissen, daß ihr Publicum nicht mehr den nächstbesten Triller-Virtuosen als Achilles acceptirt. Ihn aber mit derselben Glaubwürdigkeit musikalisch zu charakterisiren, wie einen Don Juan, Sarastro, Hüon, Hans Helling oder eine andere sagenhafte Gestalt, bleibt eine schwer erfüllbare Forderung. Dennoch erscheinen seit den letzten Decennien, die überhaupt ein wunderliches Experimentiren in der Oper aufweisen, vereinzelte Versuche mit altclassischen Stoffen. Zuerst »DieTrojaner« von Berlioz, dann »Die Odyssee« von Bungert und jetzt gleichzeitig mit der in Paris vorbereiteten »Briseïs« von Chabrier Goldmark ‘s Kriegsgefangene gleichen Namens. (Der zweite Titel der »Briseïs« von Chabrier, »La fiancée de Corinthe, läßt übrigens vermuthen, daß hier keineswegs die Gefangene des Achilles, sondern wahrscheinlich die Heldin der Goethe’schen Ballade gemeint sei.) Ob die Sympathie für diesen Stoffkreis in der Oper wieder erwachen und sich ausbreiten werde, steht dahin; jedenfalls erfordert seine Neubelebung eine ungewöhnlich starke und originelle musikalische Persönlichkeit.

 

Signale … aus Köln am 16.1.1899

 

Goldmark’s Oper, deren Textdichter sich unter dem Pseudonym Emil Schlicht verbirgt, spielt im letzten Jahre des trojanischen Krieges und setzt mit dem Tode des Hektor ein. Titelheldin ist die von Achilles erbeutete schöne Briseïs. In der »Iliade« schimmert sie nur ganz vorübergehend wie ein schwacher Lichtstrahl durch die Kriegsgräuel. Mit diesem einen Lichtstrahl ein ganzes Drama zu erhellen und zu erfüllen, mochte Goldmark, den Feind des Gewöhnlichen, als eine seltsame Aufgabe reizen. Die Oper beginnt mit der Leichenfeier für Patroklus. Achilles schwört, blutige Rache zu nehmen, und verwünscht die Götter, welche den Tod seines Freundes zugelassen. Jetzt erhebt sich aus den Meereswogen Thetis, des Achilles göttliche Mutter, und ermahnt ihn, der Rache zu entsagen. Vergebens. Er befiehlt, die Rosse zu schirren und Hektor’s Leichnam, den er bereits drei Tage lang um die Mauern Trojas geschleift, neuerdings an den Wagen zu knüpfen. Da meldet man dem Wüthenden, daß seine Sklavin Briseïs gewagt habe, die Leiche Hektor’s in ein Linnen zu hüllen. Seinem Schwur getreu, will Achill die Frevlerin mit dem Tode bestrafen, bezwingt sich aber angesichts ihrer ruhigen Würde und befiehlt, sein Schiff zur Abfahrt bereit zu machen. Es soll Briseïs zu den Ihrigen zurückbringen. Der zweite Act spielt, gleich dem ersten, im Zelte des Achilles. Schlaflos, von Träumen geschreckt, stöhnt dieser auf seinem Lager. Briseïs eilt herbei, mischt dem trotzig Abwehrenden einen Heiltrank und singt ihm, auf sein Begehr, ein Lied. Kaum hat sie es beendet, als, von einem in Wolken voranschwebenden Jüngling (Hermes) geleitet, der alte König Priamus zu Achill in das Zelt tritt. Er fleht um die Leiche seines Sohnes Hektor, welche er daheim feierlich bestatten möchte. Lange bittet er vergeblich. Erst als Priamus kniend seine Füße umklammert, weicht Achilles der vereinten Fürbitte von Briseïs, Automedon und Idäus und läßt Hektor’s Leichnam dem unglücklichen Vater ausfolgen. Dieser zieht dankbar ab. Was noch folgt, ist ein langes Liebesduett zwischen Briseïs und Achill.

 

Neues Wiener Journal vom 21.1.1899

 

Das Textbuch ist nicht eben glücklich gerathen. Die Vorgänge und Personen aus dem letzten Buche der »Iliade« hätten lebendiger, dramatisch wirksamer heraustreten müssen, vor Allem aber dem Charakter des Homer’schen Epos getreu. Wir sind nicht so pedantisch, dem Verfasser Abweichungen von dem Original zu verübeln; der Dramatiker hat das gute Recht, die Historie nach seinem Bedürfnisse zu modeln, falls er nur crasse Widersprüche mit ihren und seinen eigenen Voraussetzungen unterläßt. Wir wollen es nicht anfechten, daß der Librettist Briseïs für die Leiche des Hektor, also des Feindes, thun läßt, was sie im Epos für Patroklus, den geliebten Freund, thut. Auch nicht, daß am Schlusse das kampfgerüstete Heer »Zur Schlacht! Zum Sieg!« ruft, nachdem doch kurz zuvor den Trojanern ein zwölftägiger Waffenstillstand bewilligt war, zur feierlichen Bestattung Hektor’s. Der Componist braucht eben ein paar kräftige Schlußaccorde – es sind ihrer ohnehin sehr wenige. Aber daß wir Achilles, den »schrecklichen«, den »wilden«, den »männermordenden« und wie er sonst heißt, als einen in verschwiegener Liebespein sich verzehrenden, seine Sklavin anschmachtenden Jüngling uns vorstellen sollen, ist eine starke Zumuthung. »O Briseis,« seufzt er, »ich bin so krank, so wund, so weh; mein Herz so weh!« und so à la Heine weiter, bis er endlich Courage bekommt und ausruft: »Liebst du mich? Du liebst mich? Entzückende Lust!« Nun denke man sich einen Augenblick in jene Zeiten und ihre Kriegssitten zurück! Da war die schöne Kriegsbeute Briseïs ihrem Eroberer willkommen genau wie ein Becher süßen Weines, den er sich fröhlich schmecken ließ, ohne ihn erst zu fragen: »Liebst du mich ? Liebst du mich ?« Während bei Goldmark der wilde Achill, plötzlich »so weh und wund« wie ein deutscher Lyriker, um die Gegenliebe der Briseïs wirbt, heißt es bei Homer ganz kurz und selbstverständlich:

Aber Achilleus ruht im innersten Raum des Gezeltes,
Und ihm lag zur Seite des Brises rosige Tochter.

Und ihrerseits fleht wieder die rosige Briseïs um »sein Herz, sein wildes, wundes, hochherrliches Herz!« Auf Achilles’ Frage, was Glück sei, antwortet Briseïs: »Glück ist Glück, Glück ist Glanz, Lenz und Licht im Gemüth!« welchen modernen Schwulst Achill mit den Worten fortsetzt: »Klingende Gluth, tönender Glanz!« und was des Unsinns mehr ist.

Man kann sich nur mit einiger Anstrengung vorstellen, daß dieses Libretto Goldmark begeistert habe. Wahrscheinlich stand ihm kein besseres zu Gebote. Weder die Leidenschaftlichkeit und alttestamentarische Pracht der »Königin von Saba«, noch die mystische Romantik des »Merlin«, noch endlich die trauliche Idylle des »Heimchens am Herd« bot ihm das neue Libretto. Sein Talent konnte da nur mit halbgespannten Segeln auslaufen und blieb hinter der Wirkung der drei früheren Opern zurück. Diese haben ihren Ruhm nach allen Weltgegenden verbreitet und darum Erwartungen erregt, welche die »Kriegsgefangene» – wenigstens für meine Empfindung – nicht ganz erfüllt hat. Daß die Novität keine unbedeutende, flache Musik enthält, vielmehr eine sehr ernste, gewissenhafte, dramatisch eindringliche, bedarf bei einem Werke Goldmark’s nicht ausdrücklicher Betonung. Aber aus Respect vor dem Homer’schen Epos zieht Goldmark sein Gesicht in noch strengere Falten als gewöhnlich und vermeidet nach Möglichkeit den Reiz musikalisch abgeschlossener, einpräglicher Melodien und lebendiger, origineller Rhythmen. Lange Scenen behelfen sich mit gesungener Deklamation über einer unablässig wühlenden Polyphonie im Orchester. Dadurch entsteht – was nur scheinbar ein Widerspruch – eine aufgeregte Einförmigkeit in der ganzen Oper, eine monotone Unruhe. Sie mahnt uns an die weite graue Meeresfläche, die nur durch die unaufhörliche Bewegung tieferer Wellen an der Oberfläche gekräuselt wird. Wagner’sche Einflüsse, die schon Goldmark’s frühere Opern berührten, ohne seine Individualität zu unterjochen, scheinen mir in der »Kriegsgefangenen« zu starker Vorherrschaft gediehen. Der Chor ist nur an der ersten Scene stärker betheiligt. Die Leichenfeier, groß und würdig gehalten, nur übermäßig ausgedehnt, wirft ihren Trauerschleier über alles Folgende. Das Begräbniß ist vorüber, aber die Begräbnißstimmung will nicht weichen. Die gleichmäßig langsamen Tempi herrschen vor; selbst der Dialog bewegt sich stockend, Frage und Antwort werden, theils durch Pausen, theils durch Orchester-Zwischenspiele, auseinandergehalten, so daß man unwillkürlich souffliren möchte: Vorwärts, weiter! Der Monolog Achilles’ nach der Leichenfeier ist ein besonders charakteristisches Beispiel für diese in Interjectionen und abgerissenen Sätzen stammelnde Gesangsweise, deren Einheit ein sturmbewegtes Orchester herzustellen bemüht ist. Aeußerst selten kommt es zu der kleinsten plastisch hervortretenden Melodie, die uns Herz und Ohr erfreut; daß aber Melodie in der Oper ein Wahn sei, das ist der allergrößte Wahn. Das Auftreten der Briseïs bringt einige Ruhe und Erholung nach dem Wüthen des verzweifelt sich herumwerfenden Achill. Allein auch. Sie gelangt zu keinem rechten musikalischen Leben, bleibt stets gelassen, temperamentlos, selbst wo sie ihre Liebe und Herzenssehnsucht äußert. Das Orchester spricht in beredten Klängen aus, was wir lieber von ihr selbst gehört hätten. So in dem zarten, zauberhaft klingenden As-dur-Zwischenspiele gegen den Schluß des ersten Actes.

Zwischen dem ersten und zweiten Act hören wir ein selbstständiges, breit ausgeführtes Orchesterstück, wie dies seit der »Cavalleria« Sitte geworden und auch von Goldmark so glänzend im »Heimchen« verwendet ist. Das Zwischenspiel in der »Kriegsgefangenen« beginnt mit einem kriegerischen Allegro, das aber trotz der dreinschmetternden Trompeten keine Heldenkraft und Siegesfreude ausdrückt. Das läßt sich schwer erreichen mit der aufdringlichen Triolenfigur, bei beständigem Schwanken zwischen Ges-dur und Es-moll, chromatischem Jammer und rastlosem Moduliren. Zum Glück leitet diese »militärische« Hälfte das Intermezzo in eine bessere, sentimentale, welche mit überaus zarten Klangmischungen auf die Herzensgeheimnisse der Briseïs hindeutet. Der zweite Act bringt gegen den ersten eine Steigerung sowol in dem dramatischen Vorgänge wie in der musikalischen Erfindung. Aus dem langen Zwiegespräche (»Duett« kann man es nicht nennen) zwischen Achill und Briseïs tauchen warme innige Accente; auch in der Orchester-Begleitung zu dem A-dur-Satz (»Im Trank ist Wermuth«) löst sich die bisherige Strenge und Unruhe. Auf Achilles’ Bitte singt Briseïs ein »Lied«. Es besteht in der ersten Hälfte aus abgebrochenen, recitativisch erzählenden Sätzchen mit Harfenbegleitung und schließt mit einem melodisch zusammenhängenden Allegro moderato. Sein gleichmäßig pendelnder Rhythmus von vier Viertelnoten hält wie ein schweres Gewicht die Empfindung nieder und vereitelt den hier erwarteten Aufschwung. Es folgt die Scene mit Priamus, ein ergreifend rührender Vorgang, der schon als solcher, rein stofflich, seiner Wirkung sicher ist. Vom Dichter geschickt angelegt, vom Componisten mit der ganzen ihm eigenen Wärme und Beredtsamkeit gesteigert, erhebt sich diese Scene zum dramatischen Höhepunkt des Ganzen. Das Schlußduett zwischen Achill und Briseïs erfüllt nicht ganz die Erwartungen, welche das etwas melodiehungrig gewordene Publicum dieser erhofften Krönung des Gebäudes entgegenbrachte. Allerdings entschließt sich Goldmark, die beiden Liebenden, welche bisher nur zueinander, nicht miteinander gesungen haben, in einem kurzen Duettsatz zu vereinen: »Die Liebe zieht ein.« Auch einige Terzen- und Sextengänge ziehen ein, vermögen sich aber nicht mehr recht zu acclimatisiren.

Franz Pácal (»Automedon«)

Die Aufführung der Novität unter Mahler’s, des Unermüdlichen. persönlicher Leitung ist die denkbar vollkommenste. In der weiblichen Hauptrolle glänzt Fräulein Renard eben so sehr durch zarte Empfindung in Spiel und Gesang, wie durch ihre malerische Erscheinung. Herr Reichmann bewältigte die schwierige, anstrengende Rolle des Achill mit außerordentlichem Erfolg; seine Stimme hat nie mächtiger und bewegender geklungen. Der Priamus des Herrn Hesch – er hat leider eine einzige Scene – gehört zu den allerbesten Leistungen dieses Künstlers. Welche Sorgfalt, auf die Aufführung von Goldmark’s Oper gewendet ward, zeigt uns die treffliche Besetzung der kleineren Rollen. Fräulein Walker, unsere Fides und Amneris, gibt die Thetis, welche nur einige kurze Sätzchen aus dem Meer heraus zu singen hat. Noch viel kleiner, etwa acht bis zehn Tacte lang, ist die Rolle des Agamemnon, der nach der ersten Scene verschwindet. Man gab sie Herrn Neidl, dessen edle Repräsentation für den »König der Könige« nicht zu entbehren war. Reichmann und Neidl in ihren goldenen Helmen und Rüstungen – welch prächtige Gestalten! Sehr gut in der kleinen, übrigens wichtigen Rolle des Automedos – die einzige Tenorpartie — ist Herr Pacal. Wirklich gibt es in der »Kriegsgefangenen« einige noch kleinere Rollen, die aber nur mit bewaffnetem Auge wahrnehmbar sind.

Die neue Oper erfreute sich einer überaus günstigen Aufnahme. Nach jedem der beiden Acte wurden die Darsteller der Hauptrollen, mit ihnen Goldmark, dann endlich Goldmark allein wiederholt stürmisch gerufen. Nach diesem glänzenden Erfolge der »Kriegsgefangenen« muß ich vermuthen, daß ich mit meinem weniger begeisterten Eindrucke, meiner kühleren Anerkennung in der Minorität stehe. Ich fürchte das nicht, ich wünsche es. Denn kaum einen Künstler wüßte ich, dessen Talent und Charakter größere Achtung verdiente, und keinen, dem ich die schönsten bleibendsten Erfolge aufrichtiger wünsche, als unserem Goldmark.

(Neue Freie Presse vom 19. Januar 1899)