Stärke und die Unmittelbarkeit des Ausdruckes

Hofoperntheater »Die Kriegsgefangene«, Oper in zwei Acten von Karl Goldmark. Nach einem Texte von Ernst Schlicht. Erste Aufführung im Hofoperntheater am 17. Jänner 1899.

Karl Goldmark flieht aus der hastenden Gegenwart gern zum classischen Ideal; er taucht mit Vorliebe tief zurück zu den stillen Gründen alter Cultur. Seit seiner »Sakuntala«-Ouverture deuten die Tondichtungen »Prometheus«, »Penthesilea«, mit welcher schon die Nähe des Achilles erreicht war, und »Sappho« auf Goldmarks altclassische Neigungen. »Die Königin von Saba« und »Merlin« reichen in dunkle Vorzeit. Nach dem »Heimchen«-Intermezzo griff er nun wieder zu einem streng classischen Stoffe, welcher in seinem Geiste mehrere Jahre der Ausführung harrte. Die homerische Welt zog ihn an wie die Meister aus der Frühzeit des musikalischen Drama’s; er gab der modernen Bühne einen Achilles, den ein ernster, schlichter Mann – Ernst Schlicht ist sein bezeichnender Deckname – ihm zugebracht hatte. Einen Achill; gewiß nicht den Achilles Homers, welchem »von den Zähnen ertönt ein Geknirsch her«. Goldmarks Held empfing viel von der Schlichtheit des Textdichters, und Brisëis, die holde Kriegsgefangene, wird zum Angelpunkte und treibenden Motiv einer Handlung, welche die Iliade im neunzehnten Gesange kaum andeutet. Da lesen wir, daß Achilles den Mann der Brisëis einst im Kampfe erschlagen hatte, daß Patroklus ihr »gefälligster Freund« im Elend der Gefangenschaft gewesen war und versprochen hatte, »des göttergleichen Achilles jugendlich Weib sie zu machen«. Vor diesem edlen Beginnen sank Patroklus leider dahin. In Goldmarks Oper holt die »schönwangige« Brisëis selbst nach, was Patroklus nicht mehr vollziehen konnte. Sie weiß, obwohl Eigenthum des Achilles, doch auch sein Herz zu gewinnen. Die Bezähmung des Widerspänstigen geht nach einem Programme vor sich, das der Geist des erschlagenen Patroklus, welcher der vielumworbenen Schönen um Mitternacht erschienen war, sorgsam entworfen hatte. Brisëis umgeht zunächst das fürchterliche Gebot des rasenden Achilles und hüllt Hectors Leichnam in Linnen. Achilles achtet diesen Muth des Weibes. In der Scene, da Priamos im Zelte des göttlichen Peliden den Leichnam des Hector erfleht, deutet die holde Brisëis dem Unerbittlichen an, daß Patroklus’ Schatten nicht zur Ruhe kommen werde, so lange Hector unbestattet bleibt. Da wird Achilles weich. Brisëis erklärt dem Helden auch, daß er einst ihre stille Jugendliebe war; sie beweist ihm zudem ihre Unentbehrlichkeit durch häusliche Verrichtungen, wie Anfachen des Feuerbrandes im kalten Zelte, Bereiten eines Heiltrunks, so klar, daß die Flammen, welche im Herzen des Achilles der unvergleichlichen Brisëis entgegenlodern, endlich in die Liebesgluten der Schönen hinüberschlagen – Duett. Achilles gewinnt Briseis, welche ihm erst als Ehrengeschenk überreicht, dann von Agamemnon genommen und wieder zurückerstattet, endlich von ihm selbst freigegeben worden war, nun zum dritten Male auf dem Umwege einer romantisch angehauchten Liebesscene. Sie wird sein Weib. Die Umständlichkeit ist unhomerisch, ungriechisch gleich der Diction des Buches. Dieses hätte einer gründlichen Revision unterworfen werden müssen. So aber rückte einzig Goldmarks Musik den Text aus der matten Beleuchtung eines dilettantischen Sonnenwonnenthums.

Die Musik hebt die Oper gleich mit den düsteren Eingangstacten und den Trauerchören zur Höhe eines Gluck’schen Tondramas. Diese ergreifende Chorklage um Patroklus hat den Adel classischer Meisterschaft. Majestätisch fluten die an einen Orgelpunkt auf cis gefesselten Harmonien. Wie edel dieses Klagemotiv! Nach der Todtenfeier bricht der Sturm im Griechen-Heere aus, und ein kunstvoller Tonsatz verbirgt uns glücklicher Weise die seltsamen Verse:

»Breche die Burg!
Zeuge den Leu!
Ras‘ in den Feind!«

Achilles bleibt einsam im Zelte; sein Monolog hat Stimmung. Thetis hebt sich mit ihren Nereiden, die übrigens in ihrer Gruppirung einem Tortenaufsatz gleichen, aus dem Meere und will die Rachsucht des Achilles dämpfen: »Tausche für Wuth duldenden Muth!« Da er von der Rache an Priamos nicht lassen will, so weissagt Thetis ihrem ungestümen Sohne den nahen Tod. In Recitativen setzt sich die Handlung fort. Achilles und Automedon sehen die kühne Brisëis, wie sie Hektors Leichnam ehrt. Brisëis, von Agamemnon wieder preisgegeben, wird dem grollenden Achilles – von einem wunderschönen Orchestersatz begleitet – wieder zugeführt. Stolz und mild zugleich klingt die Musik, da Brisëis dem göttlichen Helden »Zorn und Zweifel« niederzwingt, und aus der edlen Cantilene des Achilles: »Wie wundersam! Mir das ein Weib!« entwickelt sich ein Terzett von vornehmster musikalischer Haltung. Nachdem Achilles in sein Gemach zur Ruhe gegangen und Brisëis auch ihr Lager aufgesucht hat, bringt ein Orchester-Ritornell die innigsten, schönsten Motive der Oper. Sie fließen in beseligendem Klange zusammen. Das tief empfundene Motiv, welches so zart von As- nach F-moll und dann nach F-dur sich wendet, begleitet auch Brisëis’ Anrufung der Aphrodite, mit welcher der erste Act stimmungsvoll schließt. … Widerstrebende Gefühle, Kampflust, Zorn, Klage und Sehnen werden in dem kunstreich aufgebauten Vorspiele zum zweiten Acte laut – ein Meisterstück wirksamer und doch zugleich keuscher, von jedem Effecte abgekehrter Instrumentirung. Diese ästhetische Reinheit bewahrt die Musik der Oper durchwegs; sie hat trotz ihrer stets fesselnden Harmonik die abgeklärte Ruhe und Größe, die gemessene Beredsamkeit unserer classischen Musterbilder. Jeder Tact trägt aber in seiner Eigenart das Gepräge Goldmark’scher Kunst und Empfindung. Mit den Schwächen, welche die Declamation im Vorkehren gewisser unsprachlicher Wendungen ausweist, mit seiner Erfindung, die in dieser Oper nicht überall reich blüht, hat Goldmark doch ein in sich abgeschlossenes, vollkommenes Kunstwerk geschaffen, das nicht um die Gunst der Menge buhlt und diese Gunst auch nicht in verschwenderischer Weise empfangen wird, wohl aber als Wahrzeichen seines hohen Könnens und hohen künstlerischen Sinnes bei ernsten Musikfreunden Bewunderung finden muß.

Der zweite Act erreicht in der Scene mit Priamos einen ungewöhnlichen Tiefgang der Gefühle und eine zwingende Wahrheit des Ausdruckes mit den einfachsten, weder an Wagners Gefühlssprache, noch an die gewaltsamen Künste der Modernsten gemahnenden Mitteln. Die Selbstständigkeit der »Königin von Saba«, welche selbstherrlich neben Richard Wagners Werken einhergeht, hat Goldmark auch in seiner neuesten Oper gewahrt. Er besitzt die Stärke und die Unmittelbarkeit des Ausdruckes, um selbst ohne Leitmotive geistige Beziehungen in erhabener Weise klar und eindringlich aufzuzeigen. Er bleibt auf der Höhe, auch wo der Text von Homer zu den Niederungen der Alltags-Libretti niedersteigt. Für die Wiener Hofoper ist »Die Kriegsgefangene« Goldmarks von besonderem Werthe. Reichmanns Darstellungskraft wurde wieder in einer jener idealistischen Rollen frei, die seiner Natur am meisten entsprechen. In seiner Haltung wurde der König und der Held zugleich offenbar, seine Darstellung setzte sich aus großen Zügen zusammen. Es war eine Kunstleistung ersten Ranges, die das herrliche, noch immer edel und voll klingende Organ wesentlich förderte. Hätte der »Fernhintreffer« Apollo ihm nur auch eine sichere Intonation gegeben! Frl. Renard als Brisëis war bewundernswerth, den flachen Hänsel-Ton hat sie glücklich wieder preisgegeben, und sie strebt wieder hoch auf gerader Bahn echter Künstlerschaft. Ein Ehrenzeichen dieser Künstlerschaft ist ihre Brisëis: ihr Vortrag maßvoll und von tiefer Wirkung, in ihrer Haltung gab sie bei jeder Wendung ein classisches Bild. Herr Hesch als Priamus ist unübertrefflich; wir glauben es, daß der Componist von dieser Darstellung, von dieser Tongebung schon bei den Proben zu Thränen gerührt wurde. Die Herren Neidl und Pacal, Fräulein Walker strebten mit kleinen Partien schön ins Ganze. Der Chor war mit sichtlicher und hörbarer Lust bei dem Werke, das ihm dankbare Aufgaben bietet. Direktor Mahler bewährte die Gestaltungskraft seines poetischen Sinnes in der Leitung der Ausführung und des ausgezeichneten Orchesters. So wäre Alles herrlich gewesen; nur die Regie hat, wenn wir nicht irren, einige römische Feldzeichen ins Griechen-Lager geschmuggelt; auch waren die Krieger im Zelte des Achilles zu massig gruppirt.

Dr. Robert Hirschfeld.

(Wiener Zeitung vom 18. Januar 1899)