… sprechend ausdrucksvolle Behandlung des Orchesters

»Die Kriegsgefangene.«
Oper in zwei Akten von Karl Goldmark. Nach einem Text von Emil Schlicht. (Novität des Wiener Hofoperntheaters. Erstausführung am 17. Jänner 1899.)

Wer etwa vermuthet haben sollte, Goldmarck werde nach dem glänzenden Erfolge seines »Heimchen« von nun an auf der Bühne hauptsächlich das heitere und idyllische Genre pflegen, den belehrt nun des Meisters vierte Oper gründlich eines Besseren. Goldmark hat sich zum ersten Mal als dramatischer Tondichter auf das Gebiet der klassischen Antike begeben. Daß er hiezu entschieden Beruf hat, wissen wir aus seinen hochdramatisch ausdrucksvollen Ouvertüren zu »Penthesilea«, »Sappho« und besonders zum »Gefesselten Prometheus«.Es ist daher begreiflich, daß sich Goldmark auch für die Bühne mit solchen Ideen trug, noch lange bevor in Deutschland August Bungert mit seiner Trilogie »Homerische Welt« Aufsehen erregte. Und eben darum ist von vornherein der Gedanke abzuweisen, als ob es etwa in der »Kriegsgefangenen« auf einen künstlerischen Wettstreit mit Bungert abgesehen gewesen wäre, wie Manche im »Heimchen« einen solchen mit Humperdinck herausklügeln wollten. Es kann davon schon deshalb nicht die Rede sein, weil doch August Bungert – bei aller Achtung vor seinem Streben und Können als musikalischer Erfinder und Meister – nicht in eine Linie mit dem Tondichter der »Königin von Saba« und des »Merlin« zu stellen ist. Nur die einzige Berührung mit Bungert bleibt, daß uns diesmal Goldmark wie Jener in ein Stück homerische Welt führt. Während aber der genannte reichsdeutsche Komponist sich die Texte seiner diesbezüglichen Musikdramen selber dichtete, hat sich Goldmark mit einem verskundigen und poetisch empfindenden Librettisten verbunden, dessen aus dem Zettel genannter Name »Schlicht« wohl nur ein Pseudonym ist.

Telegramm zur Premiere

Man sagt, es verberge sich darunter ein protestantischer Geistlicher der Wiener evangelischen Kultusgemeinde. Da vielleicht nicht mehr allen Lesern die in der Ilias erzählten Begebenheiten genau in Erinnerung, dürften einige Vorbemerkungen über den Stoff der Oper willkommen sein. Die Griechen hatten, bevor sie nach der wechselvollen zehnjährigen Belagerung endlich Troja einnahmen, wiederholt Eroberungszüge nach den benachbarten Seestädten unternommen und von diesen stets reiche Beute mitgebracht: Gold, Silber, Juwelen und besonders auch – schöne Mädchen. Die Mädchen wurden als Sklavin[n]en unter die vornehmsten griechischen Heerführer vertheilt, so erhielt der »König der Könige« Agamemnon Astynome oder wie sie nach ihrem Vater auch genannt wurde Chryseïs, die Tochter des Apollo-Priesters Chrysos, der herrlichste Held Achilles aber die liebliche Briseïs, die Tochter des Priesters (und zugleich Königs) Brises. Dieser hat sich in der Verzweiflung selbst den Tod gegeben, der andere seines Kindes beraubte Vater, Chryses, aber sucht um jeden Preis dasselbe zurückzubekommen, er bietet zuerst das reichste Lösegeld und da das nichts hilft, ruft er in seiner Noth Gott Apollo an, welcher nun wirklich das Lager der Griechen mit Pfeilen beschießt: die von den letzteren getroffenen Krieger sterben sofort an der Pest dahin. Durch den Seher Kalchas wird Agamemnon belehrt, wer die furchtbare Seuche gesendet und daß der zürnende Gott nur dadurch versöhnt werden könne, wenn man seinem schwer beleidigten Priester die geraubte Tochter zurückgebe. Agamemnon entschließt sich zu dem harten Opfer, nimmt sich aber als Ersatz für die verlorene Chryseïs ohneweiters des Achilles Kriegsgefangene Briseïs. Achilles läßt es, obwohl kochend vor innerer Empörung, auf Geheiß der Pallas Athene geschehen, zieht sich aber nun tief grollend vom Kampfe gänzlich zurück und verschuldet dadurch den fast vollständigen Ruin seiner Landsleute. Erst als des Achilles Herzensfreund Patroklus dem Schwert des unüberwindlich scheinenden Trojaner[-]Helden Hektor erlegen, geht eine Umwandlung in des griechischen Heros Brust vor sich. Vor Allem will er jetzt seinen erschlagenen Freund rächen und nichts kann seiner neu erwachten wüthenden Kampflust widerstehen. Hektor fällt unter seinen furchtbaren Streichen, dann folgt aber erst die eigentliche Rache, der erlegte Todfeind soll unbegraben bleiben, Achilles schändet den Leichnam, indem er ihn durch drei Tage hinter seinem Siegeswagen rings um die Mauern Trojas schleift. Als dieser erste Heißhunger dämonischer Rachsucht gestillt, schickt sich Achilles an, die Trauerfeier für Patroklus zu begehen. Damit beginnt Goldmark’s neue Oper, deren zwei Akte in und vor dem Zelte des Achilles spielen. Durch die in der ganzen Bühnenbreite aufgezogenen Vorhänge erblickt man hinter dem Zeit einen felsigen Strand – rechts und links von aufsteigenden Höhen umrahmt, die in das Meer hinausragend, eine Hafenbucht bilden: dahinter die leise bewegte Fluth. Der Mond über dem Meere, sowie dieses zum Theil selbst, erscheint zu Anfang der Handlung von Wolken bedeckt.

Beim Aufgehen des Vorhanges sitzt Achilles (Herr Reichmann) in festlichem Kriegsschmuck vorn am Tisch, die vor ihm stehende goldene Urne des Patroklus gramvoll umfassend. Im Hintergrund des Zeltes wie auf dem Strand stehen dichtgeschaart die Griechen im Kriegerschmuck mit ihren Fürsten und Führern, unter ihnen im Vordergrund Agamemnon (Herr Neidl).

Vor Achilles steht der Oberpriester mit Kranz und Stirnbinde im weißen Gewande, neben und hinter ihm Priester und Opferknaben, sowie allenthalben fackeltragende Sklaven. Ein tiefernster Trauerchor leitet die Feier ein, dann trägt Achilles selbst, vor Schmerz fast außer sich, die Urne mit des Freundes Asche zum Grabhügel, vor welchem Alle langsam und feierlich vorüberziehen, das Knie beugen und in das Grablied einstimmen:

Rinnt, ihr Thränen! Seufzt ihr Klagen!
Hellas‘ Ruhm des Hades Raub! u.s.w.

Die ganze ergreifende Szene wirkt wie ein in unsere moderne Welt herüberdringendes Echo aus Gluck’s »Orpheus«, der ja mit einer ähnlichen Todtenfeier beginnt. Agamemnon, im Vordergrund links zurückgeblieben und durch den Schmerz des Achilles tief gerührt, beschließt, diesem die schöne Briseïs wiederzugeben. Begeisterter Rache- und Kriegsschwur Aller an der Grabesurne. Umarmung des Agamemnon nnd Achilles, dann Letzterer allein gelassen und bitter sogar den Göttern grollend, daß sie seinen weiteren Racheplänen nicht entgegenkommen, nicht die Wölfe und Geier senden, damit ihnen des Mörders Leib zum Festmahl diene … Da hat sich ein Windhauch erhoben. Die Wolken vertheilen sich und kommt auf den vom hellsten Silberglanz des Mondes beschienenen Wellen Achilles’ Mutter Thetis (Frl. Walker) heran, mit zurückgeschlagenem Sternenschleier, umschwommen von Nereiden. Vergeblich mahnt sie den Sohn, mit den Göttern nicht zu hadern, der Rache zu entsagen. Unverrichteter Dinge muß sie abziehen und Achilles, ergrimmter als zuvor, beschließt, den Leichnam Hektor’s neuerdings um die Stadt schleifen zu lassen. Er ruft zu diesem Zweck seinen Waffenträger Automedon (Herr Pacal), doch Letzterer deutet nach rückwärts gegen einen Felsen, hinter dem die Leiche des Erschlagenen anzunehmen:

Ein knieend Weib – über Hektor gebeugt – !
Zwei Männer müh’n sich sie aufzureißen sie stößt sie zurück!
Achilles (mit unterdrücktem Aufschrei): Werft sie zu Boden – Ein Weib!
Automedon: Sie hüllt Hektor’s Leib in ein Linnen – legt Erde ihm auf die Brust!
Achilles: Sie wagt’s – und – ein Weib!!

Die zwei Herolde bringen Genannte, es ist Briseïs (Frl. Renard), die »voll edlem Stolz, die Arme über die Brust gekreuzt, daherschreitet und anfangs noch etwas im Hintergrunde verharrt.« Achilles hat auf die Ehrung von Hektor’s Leichnam den Tod gesetzt, das weiß sie. aber sie wagte jene Ehrung doch – auf des Patroklus eigenes Gebot! Als »friedloser Schatten« erschien ihr Letzterer um Mitternacht: »Vom Lethe dürfte er nicht eher trinken, bevor ihm nicht zweifache Last vom Herzen genommen.« »Sie erste nahm sie ihm bereits, indem sie ihm Linnen und Erde gab, die zweite aber muß sie verschweigen, bis die Stunde da, sie ihm abzunehmen.« Briseïs schließt ihre Erklärung: »Glaub’s – heiß’ es Lüge: Wie Dir’s gefällt!« Achilles drückt ihr nach einem letzten kurzen inneren Kampfe die Hand: »Ich glaube Dir, Mädchen.« »Briseïs hebt ruhig den Blick und schaut wie dankend in Achilles’ Auge: dieser, von dem Blick in die Seele hinein berührt, schlägt verwirrt die Augen zu Boden«. Dann folgt ein kurzes Ensemble, in welchem Achilles seiner Verwunderung Ausdruck gibt, durch ein Weib sich Zorn und Zweifel entschwinden zu sehen und andererseits Briseïs und Automedon die Götter anflehen, des Helden krankes Gemüth völlig genesen zu lassen. Achilles, der in steigernder Erregung auf Briseïs geblickt, eilt plötzlich, wie nach Luft ringend, auf den Strand hinaus. Unsichtbar singen die Nereiden aus der Ferne:

Das Glück, das Glück, das strahlende Glück:
Nicht stoß’ es zurück.
Achilles tritt wieder ins Zelt. Sklaven ziehen die hinteren (Doppel-)
Vorhänge des Zeltes dicht zusammen, löschen die Fackeln,
entfernen sich.

Der Held weist Briseïs in das für sie bestimmte Gemach, das unverändert ganz so geblieben wie damals, bevor sie’s verlassen mußte. Dann gibt er Automedon den Auftrag, mit dem Frühroth die Gefangene auf seinem Königsschiff in ihre Heimath zu führen und wankt, den Kopf in die Hände pressend, in seine Gemach. Briseïs belauscht das Gespräch, kann sich aber über die ihr nun winkende Freiheit nicht recht freuen, richtet vielmehr an Aphrodite die sehnsüchtige Bitte: ihr Achilles’ Herz zu schenken. Hierauf bleibt sie, »den Blick erhoben, wie in Gebet versunken« stehen: Ende des ersten Aufzuges.

Zu Anfang des zweiten Aktes hört man Achilles in seinem Gemach stöhnen, von Wahnvorstellungen gequält. Briseïs stürzt voll Entsetzen den Vorhang wegreißend zu ihm und sucht den auf seine Kniee Hingesunkenen zu beruhigen. Sie macht Feuer am Herde, bereitet einen Heiltrank, singt endlich ein auf Achilles’ eigene Kindheit bezügliches Lied und der Held zeigt sich von ihrem lieblichen Wesen immer mehr berauscht. Sonnenaufgang, zugleich eine zauberische Erscheinung: in einer rosigen Wolke schwebt eine Jünglingsgestalt, Hermes, vorüber. Vom Sonnenaufgang bestrahlt, tritt im Königsmantel »als würdiger Greis mit weißem Haar und Bart« Priamus ein, auf seinen Vertrauten Idäus gestützt; eine Lichtgestalt, eben Gott Hermes, hat Beide hereingeführt. Priamus bittet um die Leiche seines Sohnes Hektor, dieses Ansinnen weist Achilles zunächst barsch zurück, auch dann noch zögernd, als ihm der unglückliche König zu Füßen fällt und den Saum eines Gewandes küßt. Nun versetzt aber Briseïs »groß«, wie’s wörtlich im Textbuch heißt:

Nimm von Patroklus
Die andere Last:
Er wartet darauf!

Da kann Achilles nicht mehr widerstehen, er hebt Priamus auf und befiehlt Automedon, das Nöthige zu veranlassen. Rührende Szene wenigstens momentaner Versöhnung zwischen den sich so kriegsfeindlich gegenüberstehenden Männern. Achilles hat aber jetzt das edle Herz Briseïs’ erst so recht erkannt, heiße Liebe glüht in ihm auf, es kostet ihm den härtesten Kampf, das Mädchen von sich ziehen zu lassen. Und zu seiner freudigsten Ueberraschung kommt sie nun selbst seinen Wünschen entgegen: leidenschaftliches Liebesduett, der Höhepunkt aber nicht der Schluß der Oper. Dieser gestaltet sich vielmehr genau nach den Angaben des Textbuches so: Achilles gibt den eintretenden Sklaven ein Zeichen, die Vorhänge zu öffnen. Man erblickt auf beiden Seiten die zum Kampf gerüsteten Fürsten und Krieger. Durch den in der Mitte offen gelassenen Raum sieht man rückwärts am Strande des zur Abfahrt bereite Königsschiff, die Segel gespannt, mit flatternden Wimpeln, auf dem Verdeck die wartenden Schiffsleute. Die Sonne erhebt sich über der blitzenden Fluth. Während des Chores der Krieger: Zur Schlacht! Zum Siege! fällt der Vorhang. Dieser Schluß enthält insofern einen kleinen inneren Widerspruch, als in der großen Szene Achilles mit Priamus dem Trojanerkönig ausdrücklich zwölf Tage Waffenruhe zur Leichenfeier für Hektor zugestanden wurden. Vielleicht nahm der Librettist an, daß die Mehrzahl der hellenischen Krieger hievon nichts wußte.

An die Komposition ist Goldmark als der ernste, echte, vornehme Künstler herangetreten, wie man ihn seit vielen Jahren kennt. Ich möchte sagen, er hat einen großen Theil des Textes so komponirt, wie ihn heute etwa Gluck komponiren würde, wenn er noch lebte und die enormen dramatisch-musikalischen Errungenschaften unseres Jahrhunderts, vor Allem das Kunstwerk Wagner’s sich völlig zu Eigen gemacht hätte. Ohne natürlich auch nur im Geringsten seine spezifische Originalität aufzugeben, die vielmehr überall erkennbar, hat sich doch auch Goldmark in seiner »Kriegsgefangenen« dem Einfluß Wagner’s nicht ganz entziehen können, oder richtiger nicht entziehen wollen, es kommt aber Alles wie von selbst, als könne es nicht anders sein, so daß man die vereinzelten Anklänge an »Parsifal«, »Tristan«, die »Nibelungen« gar nicht als eigentliche Reminiszenzen empfindet. An Gluck gemahnt häufig die einfache Stylgröße, die Abweisung alles Ueberflüssigen, nicht zur Sache Gehörigen. So gleich in der überaus edel-stimmungsvoll vertonten Leichenfeier, mit welcher nach wenigen Einleitungstakten des Orchesters die Oper eröffnet. Wie die Situation hier auffallend an die Eingangsszene von Gluck’s »Orpheus« erinnert, so auch die Musik, aber keineswegs irgendwie direkt, vielmehr »im Geiste und in der Wahrheit«. Ergreifend wirkt der zwischen den hohen und tiefen Stimmen a capella vertheilte Wechselgesang der Opferknaben und Priester hinter der Szene in Form eines wehmüthig feierlichen Chorals. Mit Schwung und Kraft ist der Schwur an Patroklus’ Urne vertont und es entwickelt sich hieraus ein kriegerisch erregtes Ensemble, dessen belebendes Element hauptsächlich eine energische Triolenfigur des Orchesters bildet. Mit einer schneidigen militärischen Stretta endigt die Szene, kampfesfroh ziehen die Krieger ab und überlassen Achill seinem Gram, den ausdrucksvollst das Orchester illustrirt. Chromatisch aufwärts fliegende Sextengänge bereiten die zauberische Erscheinung der Thetis vor, eingeleitet von dem hellfrischen Chor der Nereiden mit einem leisen harmonischen Anklang an den lieblichen Gesang der Friedensboten aus »Rienzi«; hieraus die sich im Verlaufe immer musikalisch wärmer gestaltende Unterredung des Achill mit seiner Mutter, durch den entschwebenden Warnungsruf der Nereiden stimmungsvoll abgeschlossen.

Die nächsten Szenen sind in den Singstimmen wesentlich deklamatorisch gehalten, das Orchester hält sich dabei sehr diskret, aber mit charakteristisch sprechenden Figuren. Zum Beispiel bei Briseïs’ fast nur auf einem Ton gesungenen und doch ungemein wirksamen Schilderung der Geistererscheinung des Patroklus. Ein schöner melodischer Dreigesang (H-moll … / dann …) bildet sich in kanonischen Imitationen an den Stimmen Achilles’, der Briseïs und Automedon’s heraus, an die Stelle anknüpfend, da der Held der Erzählung des Mädchens Glauben zu schenken erklärt.

Die eindringliche Hauptmelodie kehrt im zweiten Akte wieder. Zu den schönsten musikalischen Partien der Oper gehört das in As-dur beginnende und dann nach F-dur hinüberführende orchestrale Zwischenspiel, während dessen Briseïs leise ihr Gemacht verläßt, um an Eingang zu jenem Achilles’ zu lauschen. Die bebenden Synkopen, die zarte und doch kühne Harmonisierung, welche selbst den herben Reiz von Parallel-Quinten nicht scheut, die Führung der Geigen und Holzbläser: Alles ist in diesem Zwischenspiel von echt Goldmark’schem Zauber. Dasselbe gilt von dem anschließenden, kurzen Gebet Briseïs’ an Aphrodite (mit stets melodieführendem Orchester) und dem wehmüthig zart verhauchenden Nachspiel in Es-moll, mit welchem der Akt schließt. Ein großes Orchestervorspiel dient dem zweiten Akte zur Introduktion. Es gibt sich mehr als ein kriegsfreudiges Allegro assai (2/4 Es-dur) durch die schneidige Triole und die scharfe Betonung des schlechten Takttheiles für Goldmark besonders charakteristisch. Auch an herben, doch effektvoll harmonischen Durchgängen, wie man das so liebt, fehlt es nicht.

Wenn der Tonsatz hier von Gis-dur nach B-dur wendet, mögen vielleicht einzelne Hörer bei der leichten luftigen Gegenbewegung der sich mannigfach kreuzenden Instrumentalstimmen an das prächtige Orchesterstück »Siegfried’s Rheinfahrt« aus der »Götterdämmerung« denken. Aber es ist auch hier mehr nur geistige Verwandtschaft. Völlig verändert sich die Stimmung mit Eintritt des langsamen Tempos und zugleich der Tonart Fis-moll, da nimmt die Musik einen anfangs fremdartig feierlichen, dann aber schmerzlich drangvollen Charakter an, in heißer chromatischer Modulation unser Innerstes aufwühlend, erst ganz zuletzt wie erlöst in H-dur ausklingend. Jedenfalls eines der merkwürdigsten Orchesterstücke Goldmark’s, geistig wohl auch schon die erschütternde Szene andeutend, da Priamus so lange vergebens um den Leichnam seines Sohnes bittet. Eben diese Szene dürfte in Bezug auf dramatisch ausdrucksvollste Vertonung, auch die schärfsten Dissonanzen nicht scheuend, in der Musik des zweiten Aktes obenan stehen: wie spricht da das Orchester! Originell ist das Lied der Briseïs komponirt: seine begleitenden Lyraklänge auf feierliche Halbnoten der Harfe übertragen, welche den anfänglichen Sprechgesang systematisch unterbrechen, dies der langsame erste Theil des Liedes, hieraus ein Allegro von hymnischem Schwung mit einer Sechszehntelbegleitung, welche einen stürmischen Ritt durch die Luft illustriren könnte. Wohlthuend berührt die Wiederkehr der edlen H-moll-Melodie aus dem ersten Akte an der Stelle, wo Achilles seiner Liebe zu Briseis recht bewußt wird und die würdige Krone der Oper in musikalischer Beziehung bildet das letzte Liebesduett, für dessen Steigerungen Goldmark besonders im Orchester eine melodische Gluth findet, wie sie unter allen lebenden Tondichtern vielleicht nur eben ihm gegeben. Ein kurzes, schneidigstes, jubelndes Prestissimo in der Art jenes, mit welchem Wagner den ersten Akt seines »Siegfried« schließt, folgt dann als eigentlicher Schluß des Werkes noch nach. Was die Gesammtwirkung der Oper anbelangt, so wird sie vor Allem davon abhängen, inwieweit sich das Publikum heute noch in die homerische Zeit auf der Bühne hineinzuleben vermag, mit Gestalten wie Achill. Agamemnon, Priamus, Briseïs sympathisiert. Einige Bedenken erweckt das Episodenhafte, Fragmentarische des Textbuches, das fein gebildete Hörer voraussetzt, die ihren Homer noch bis ins Detail im Kopfe haben. Ob diese Voraussetzung auch bei der Mehrzahl der modernen Damenwelt zutrifft, wüßte ich wirklich nicht zu sagen. Daß Goldmark’s Partitur besonders in Bezug auf sprechend ausdrucksvolle Behandlung des Orchesters ein Meisterwerk, dürfte kaum von Jemanden bestritten werden. Die Wiedergabe seitens der bereits genannten Hauptsolisten ist eine durchaus würdige, besonders liegt die Titelrolle der Briseïs, indem sie so häufig ein edles Sprechsingen auf einem und demselben Tone verlang, Frl. Renard sehr günstig. Mit Auszeichnung ist auch Herr Hesch zu nennen, ein würdigerer schmerzerfüllter königlicher Greis, als er ihn in der räumlich ja kleinen Rolle des Priamus stellt, läßt sich kaum denken. Ich halte überhaupt die Priamusszene für eine der ergreifendsten des Werkes. Daß Chor und Orchester ihr Bestes geben, versteht sich bei einer von Direktor Mahler persönlich geleiteten Vorstellung von selbst. Nicht minder rühmlich ist die Ausstattung, durchs klassisch stylvoll erfüllt sie fast minutiös genau die Anforderungen des Textbuches. Ueber den Ausfall der Premiere werde ich die Leser, wie immer, sofort telegraphisch unterrichtenDr. Theodor Helm.

(Pester Lloyd vom 18. Januar 1899)