… fast durchweg in Stimmung aufgelöst …

Theater und Kunst.
Karl Goldmark’s »Die Kriegsgefangene«.

Die Opernproduction des vorigen Jahrhunderts hat ihre meisten Stoffe und Figuren den Sagen des classischen Alterthums entlehnt. Viele hundert mythologische Opern aus jener Zeit sind heute verschollen, und was die Gegenwart davon noch pflegt. mehr aus Pietät denn aus wirklicher Neigung, knüpft sich last ausschließlich an den Namen Gluck. Daß dieser Meister und seine Zeit nur auf dem bedenklichen Umwege über Corneille und Racine in die altclassische Welt eindrangen, ist dabei nicht zu übersehen. Als durch die Kraft deutschen Dichtergeistes thatsächlich eine Wiedergeburt der classischen Antike sich vollzog, hatte sich die Musik fast vollständig von dem zuvor so übermäßig gepflegten Gebiete zurückgezogen. Das Reich der Romantik hatte sich aufgethan und alle Tonfluthen in seine Kreise gezogen.

Eine neuerliche Jahrhundertwende. Die Vorherrschaft der romantischen Oper beginnt bedenklich zu schwanken. Die Revolution des grobsinnlichen Realismus ist noch lange nicht überwunden; und das classische Alterthum, vor zehn Jahren noch als gänzlich »unmodern« von der Opernbühne verbannt, beginnt mit dieser wieder Fühlung zu gewinnen. Bungert’s philiströse Odysseus-Trilogie wird im Reiche draußen schwunghaft verzapft: und eben jetzt sind zwei Briseis-Opern aufgetaucht, deren eine schon durch den Namen ihres Componisten die ernste Beachtung weiterer Kreise auf sich lenken muß.
 

Neue Freie Presse vom 18. 1. 1899


 

Goldmark’s »„Die Kriegsgefangene« ist also gestern zum erstenmale ausgeführt worden. Ein eigenartiges Werk, dem gegenüber man mit dem gebräuchlichen kritischen Maßstabe nichts anzufangen weiß. »Wollt ihr nach Regeln messen, was nicht nach eurer Regeln Lauf? – « könnte hier mit Fug ein zeitgenössischer Hans Sachs den Nörglern und Splitterrichtern zurufen. Wenn ein Meister der Kunst auf ihre eindringlichsten Mittel, z. B. Melodie und Gesang, Verzicht leistet, so muß er dafür Gründe haben, die in seiner künstlerischen Ueberzeugung wurzeln. Uns drängt sich fast der Gedanke auf, als ob Goldmark, der im »Heimchen am Herd« gegenüber dem vulgären Geschmack etwas herablassend gewesen, nunmehr durch zu weit getriebene Herbheit und Verschlossenheit sich mit seinem inneren Kunstmenschen wieder in Einklang zu bringen beabsichtigt hätte. Er thut Buße vor dem Gott. der ihm im Busen wohnt; Sack und Asche weist er aber dem Publicum zu, für dessen Hörlust er sich auch nicht einen Deut von seiner Ueberzeugung abringen lassen will. Die Anfangschöre (bei der Bestattung des Patroklus) mit ihrem edlen Stimmungsgehalt, die wunderschöne Stelle der Briseis am Schlusse des ersten Actes (»Er sendet mich heim«), das prächtige, breit ausgesponnene Vorspiel zum zweiten Act und der – sozusagen im Rhapsodenton gehaltene – Gesang vom Kinde Achilleus und seinem liebeleeren Aufwachsen: das ist so ziemlich Alles, woran sich der opernfreundliche Normalmensch wird anklammern können. Im Uebrigen erscheint die Musik fast durchweg in Stimmung aufgelöst, welche den dramatischen Vorgang erläutert, untermalt, vertieft, verstärkt und verklärt, aber bei aller Wichtigkeit dieser Dienstleistungen doch eben nur in einem dienenden Verhältnisse gegenüber dem Drama verharrt. Daß den Meister bei diesem Verfahren eine bestimmte künstlerische Idee leitete, etwa eine Copie des altgriechischen Dramas unter Anwendung moderner Kunstmirtel, ist ebensowenig zu verkennen, als das überall künstlerische Gepräge dieses Verfahrens selbst. Den Singstimmen ist, in getreuer Befolgung des einmal festgestellten Princips, fast durchwegs eine declamatorische Ausgabe zugewiesen. Doch welche Wirkungen ein wahrer Künstler selbst in der Beschränkung auf rhythmische Recitation hervorzubringen vermag, wenn er für die Gefühlsaussprache die Stimme des Orchesters zu beseelen weiß, das zeigt sich in der ergreifenden Scene des Priamos, der um Auslieferung der Leiche seines Sohnes fleht.

Die Wiener Briseïs

Die Dichtung hat Ernst Schlicht (Pseudonym für Pastor Formey) beigestellt. Sie ist von classischer Einfachheit, würdevoll und schön in der Sprache, von antikem Geiste erfüllt. Ohne sich mit diesem in Widerstreit zu setzen, war der Dichter auch auf malerische Wirkungen der Scene bedacht. Allerdings stehen wir modernen Menschen den dramatischen Grundmotiven fremd gegenüber: wir können sie kaum als dramatisch empfinden. Der Ueberschwänglichkeit des Leides um den erschlagenen Freund können wir mit unserer Theilnahme nicht folgen, weil uns der altgriechische Begriff, welcher Freundschaft als einen höheren edleren Grad der Liebe erachtete, nicht geläufig sein kann. Deswegen begreifen wir auch nicht recht den psychologischen Umweg, auf welchem Achilleus zur beglückenden Weibesliebe bekehrt wird. Die Figur der Briseis ist übrigens vom Dichter sehr sympathisch gestaltet worden, indem er für sie einige Züge der Antigone entlehnte. Sie ist es, die dem Zorn des Achilleus trotzend, dem Leichnam des Hektor Ehre erweist; sie vermag über ihn, was die Mahnung der göttlichen Mutter nicht vermocht, daß er den todten Feind zur Bestattung freigibt. Sie singt ihm die Liebe ins Herz und macht den ungefügen Helden den Werken der Aphrodite dienstbar. So ist sie einzig die handelnde Person des Operndramas und mit Recht dessen Titelheldin.

Die schwierigen Aufgaben hatten die richtigen Personen gefunden. Theodor Reichmann verkörperte den trauernden Helden Achilles mit Würde, sein herrliches Organ trug ihn über das brausende Orchester hinweg, er war gleich groß in seinem Schmerz um Patroklus wie als Liebeflehender. Fräulein Renard errang mit der Briseis, der sie alle Anmuth, alle Vorzüge ihrer Stimme lieh, reichsten Beifall. Als Priamus bot Herr Hesch eine sehr zu würdigende Leistung. Seine Klage um den verlorenen Sohn brachte er mit voller Wirkung zum Vortrag. In den kleineren Rollen thaten auch die Herren Neidl und Pacal, sowie Fräulein Walker ihre Pflicht.

Die Aufnahme der Oper war eine äußerst warme. Nach dem ersten Act mußten Herr Reichmann, Fräulein Renard und später auch Karl Goldmark wiederholt erscheinen. Das Vorspiel zum zweiten Act, vom Orchester unter Mahler’s Leitung brillant durchgeführt, wurde stürmisch zur Wiederholung verlangt. Aber der Director gab nicht nach, er verneigte sich vor dem ihn acclamirenden Publicum, aber er ist nicht der Mann, um der Geschmacklosigkeit eine Concession zu machen.

Noch freundlicher wurde der zweite Act aufgenommen, der dem Publicum reicher an musikalischer Erfindung schien. Achilles’ Liebeserwachen und das Lied der Briseis, die Jugendzeit des göttergleichen Helden schildernd, gefielen sehr. Der alte Meister wurde immer wieder nach dem Fallen des Vorhanges gerufen. s. k.
(Neues Wiener Journal vom 18. Januar 1899)