… ein Werk von nicht gewöhnlicher Bedeutung

Das Heimchen am Herd.

Oper in drei Abtheilungen (frei nach Dickens’ gleichnamiger Erzählung)
von A. M. Willner. Musik von Karl Goldmark
Erste Aufführung im Wiener Hofoperntheater am 21. März 1896

Nach langer Zeit endlich wieder einmal ein Werk von nicht gewöhnlicher Bedeutung, das seine erste Ausführung in Wien erlebte und das von hier aus seinen Weg über die Bühnen Deutschlands und der Welt nehmen wird. Wir wollen hiemit der Direktion unserer Hofoper kein besonderes Lob ausgesprochen haben, denn ein »vaterländischer« Komponist von der Bedeutung Goldmark’s kann wohl mit Recht verlangen, daß seine Werke von der ersten Bühne des Reiches unbesehen zur Aufführung angenommen w’erden, da er selbst die Verantwortung für seine That dem Publikum gegenüber trägt und das Publikum wieder das Recht hat, alles, was er als reif und fertig aus der Hand gibt, wäre es selbst einmal ei» minder gelungenes Produkt, kennen zu lernen.

Der Librettist, Herr Willner, der das trauliche Dickens’sche Hausmärchen zu einem Operntext verarbeitete, hat außer der Herstellung glatter und sangbarer Verse nicht viel für den Komponisten gethan. Er hat nichts erfunden, was in die für ein Bühnenwerk viel zu ruhige Handlung einiges draumtisches Leben gebracht hätte; er hat mit der braven Frau Dot. die bei Dicken’s ganz unschuldigerweise in den Verdacht der Untreue gegen ihren Mann kommt, ein gewöhnliches kokettes Frauenzimmer gemacht, das ihren wackeren Mann absichtlich zur Eifersucht reizt, und er hat schließlich die Lösung des dramatischen Knotens auf einen zu frühen Zeitpunkt verlegt. Während Dickens den Leser seines Märchens erst am gänzlichen Schlusse mit der Lösung des Räthsels überrascht, weiß der Zuschauer mit Beginn des letzten Aktes das ganze Geheimniß und soll sich daran unterhalten, daß es eine einzige Person, der geprellte alte Liebhaber, noch nicht weiß. Daß die beiden letzten Akte statt mit lebendigen Finalesätzen mit lebenden Bildern schließen, thut ebenfalls der dramatischen Wirkung starken Abbruch, so schön die Bilder und die sie begleitende Musik auch sind.

Goldmark ist in erster Linie Instrumentalkomponist. In der Behandlung des Orchesters zeigt er sich von der ersten bis zur letzten Note als Meister ersten Ranges. Und zwar nicht nur in der Instrumentirung, den Farben des Bildes, die prächtig und mannigfaltig genug sind, sondern auch in den Contouren, in der Zeichnung. Er hat eine reiche Phantasie, weiß seine Gedanken logisch zu entwickeln, kunstvoll zu verarbeiten, seine Instrumentalsätze wirksam zu steigern und glänzend abzuschließen. Dies gilt nicht bloß von den reinen Instrumentalsätzen der Oper, der geistreich erfundenen und formschön abgerundeten Ouvertüre, wie der effektvoll aufgebauten und gesteigerten Einleitungsmusik zum dritten Akt, sondern von allen Musikstücken der Oper: der instrumentale Theil ist überall, auch bei den Gesangsnummern, das schönste an der Sache. Was an den Elfenchören Elfenmäßiges ist, liegt im Orchester. (Beiläufig bemerkt, hat Goldmarck den Elfen, die seit Mendelssohn’s »Sommernachtstraum« immer sehr uniform auftreten, eine neue Seite abgewonnen.) Die Wirkung von Frau Dot’s »wundersüßem Geheimniß« beruht auf der weichen Orchesterbegleitung, geradeso wie der komische Effekt in Takleton’s Entreelied auf der altmodischen kontrapunktischen Begleitung beruht. Wenn wir die ganze Oper durchgehen, so finden wir nur wenige Stellen, in denen die Wirkung durch das musikalisch warm und ausdrucksvoll betonte Wort erzielt wird, dagegen zahlreiche, wo der an und für sich unbedeutende und ausdruckslose Gesang durch die instrumentale Unterlage gehoben, gesteigert und lebendig gemacht wird. Der große Erfolg, den Herr Schrödter mit seiner Romanze im zweiten Akt erzielte, ist kein Gegenbeweis, denn er kommt zum größten Theil auf Rechnung der schönen hohen Brusttöne des Sängers, die ja des begeisterten Beifalls des Publikums jederzeit sicher sind, und das klangschöne Quintett ist ein Instrumentalstück für fünf Singstimmen, von dessen gleichzeitig gesungenen fünf Texten etwas verstanden zu haben sich wohl niemand rühmen wird. Zu den wenigen Stellen, bei denen der Schwerpunkt in der Singstimme liegt, gehört der warm empfundene Monolog John’s, nachdem er die vermeintliche Untreue seines Weibes entdeckt hat, der auch von Herrn Ritter mit ergreifendem Ausdruck gesungen wurde. Auch der Chor »Guten Morgen, Herr Takleton«, dessen erste zwei Takte merkwürdigerweise Note für Note mit dem Volkslied »So viel Stern’ am Himmel stehen« übereinstimmen, scheint aus den Textworten hervorgewachsen zu sein. Seine Bedeutung erhält er aber durch die Ausgestaltung des Themas und die kunstvolle kontrapunktische Arbeit. Als Chor machte diese Nummer nur wenig Wirkung, während sie als Orchesterstück – die schon erwähnte Einleitung zum dritten Akt – den Haupterfolg des Abends erzielte und auf stürmisches Verlangen des enthusiasmirten Publikums wiederholt werden mußte.

Daß die Ausführung unter Direktor Jahn’s bewährter Leitung eine vorzügliche war, haben wir bereits gemeldet. Fräulein Renard sang und spielte die Frau Dot mit warmem und natürlichem Gefühl, Frau Forster war ein liebliches Heimchen, die Herren Schrödter und Ritter gaben sich mit Liebe ihren Aufgaben hin, und Herr Reichenberg brachte den etwas schablonenhaft gezeichneten Gecken zu heiterer Wirkung. Fräulein Abendroth war als May nicht an ihrem Platze. Sie hatte nichts Colorirtes zu singen und wußte daher aus ihrer Partie nichts zu machen. Daß der Chor für die lustigen Szenen, in denen er beschäftigt ist, zu wuchtig war, kann man den Sängern nicht zum Vorwurf machen, das liegt an der starken Besetzung. Das Orchester wurde für seine virtuosen Leistungen durch rauschenden Beifall ausgezeichnet und der Komponist sowohl allein als mit den Darstellern nach dem zweiten und dem dritten Akte wohl ein dutzendmal gerufen. J. S.
(Arbeiter Zeitung vom 24. März 1896)