… unaufhörlich von der Storchenidee durchdrungen

»Das Heimchen am Herd« von Carl Goldmark

Erstaufführung im Wiener Hofoperntheater am 21. März 1896.

John Peerybingle und sein Weibchen leben in der glücklichsten Ehe von der Welt, so wenig sie äußerlich auch zusammenpassen mögen. Sie hat noch kaum die Kinderschuhe recht vertreten, er ist bereits zu stark angegrauter Männlichkeit vorgeschritten; sie ist ein kleines, hübsches, rundliches Ding, er ist vom Schlage der Nordlandshünen und muß sich mühsam und tief Herabbücken, wenn er ein Küßchen von den Lippen seines Gesponses pflücken will; sie ist lebhaft, schmiegsam und voll Mutterwitz, er langsam und unbeholfen in Gehaben, Rühren und Denken. Aber helle, goldene Herzen, ohne Falsch besitzen Beide, das hat sie geeint und hält sie untrennbar zusammen. Und noch eines: ein zirpender Hausgeist wacht über dieses stille Eheglück und wird es vor allen Fährlichkeiten zu beschützen wissen. Wir dürfen also unbesorgt sein: die bösen Geister der Verführung, Verdächtigung und Eifersucht werden keine Gewalt erlangen über dieses friedliche Heim, und wenn sie ihre Natternköpfe lauernd erheben, wird das »Heimchen am Herd« sie echtzeitig niedertreten.

Man sollte voraussetzen, daß Charles Dickens’ bezauberndes Hausmärchen allgemein bekannt ist; unerläßlich ist jedoch diese Vertrautheit mit dem Original nicht für den richtigen Genuß des Opernlibrettos, das der begabte und findige Herr Willner nach dieser Vorlage angefertigt hat. Ich möchte sogar behaupten, daß er an solchen Zuhörern, welche sich mit der Lectüre des großen englischen Humoristen nie befaßt haben, ein mehr empfängliches und dankbares Publicum finden wird. Man kann Herrn Willner nicht absprechen, daß er viel von der Poesie des Dickensschen Hausmärchens in sein Opernbuch hinübergerettet hat; aber der sonnige, goldige Humor, der uns in jeder Zeile der trauten Büchleins anheimelt, ist bei dem Proceß der Bühnenübertragung fast gänzlich verhaucht und verduftet. Vielleicht ohne Schuld des Translators. Was hätte auch Herr Willner auf der Opernbühne mit der Geschwätzigkeit des brodelnden Kessels anfangen sollen, dessen beharrliches »Sum-sum« mit dem traulichen „Zirp-zirp“ des Heimchen» einm so ergötzlichen Wettgesang eingeht? Was mit dem kleinen, zappeligen Grasmäher auf der Schwarzwälderuhr oder mit dem possirlichen Hündlein Boxer? Ja – wenn es ein Ballet gewesen wäre, da hätte Herr Willner sich leicht Raths gewußt; nicht zum erstenmale wäre derlei auf die – Beine gestellt worden. In der Oper aber, wo es heutzutage ja leidlich vernünftig zugeht, konnte kein Stück des Peerbingle’schen Interieurs, und wäre es dem Leser noch so sehr ans Herz gewachsen, als »handelnde Person« verwerthet worden. Sind ja doch sogar sehr lebendige und höchst bedeutsame Personen dieses Hausstandes einem wirklichen oder vermeintlichen Bühnenbedürfnisse zuliebe in Wegfall gerathen, nämlich ein sehr talentvolles Wickelkind und dessen getreue Wärterin Tilly Tolpatsch, welche eine so bewunderungswürdige Geschicklichkeit besitzt, den Kopf des Kindleins mit allen möglichen und unmöglichen Gegenständen caramboliren zu lassen. Wir begreifen Herm Willner vollkommen; der Psychologie des modernen Theaterpublicums mochte er ein genaues Studium gewidmet und sich sonach gesagt haben, daß auf der Bühne ein Kindlein, in pikant-träumerische Perspektive gerückt, ganz anders wirkt, als eine leibhaftig-strampelnde Existenz, wie denn auch eine Frau, die Mutter werden soll, eine interessantere Figur abgibt, als die es schon geworden. So übertrumpft Herr Willner den harmlosen Dickens, indem er außer dem Heimchen noch einen zweiten guten Genius in das schlichte Getriebe der Handlung eingreifen läßt: den Storch. In Willner’s dichterischer Phantasie scheint Gevatter Klapperschnabel überhaupt eine große Rolle zu spielen. Zwar läßt er ihn diesmal nicht, wie in seinem Ballett »Amor auf Reisen«, in dräuender Riesengröße der Versenkung entsteigen, aber der Text ist unaufhörlich von der Storchenidee durchdrungen. Gleich zu Beginn prologirt derlei das indiscrete Heimchen, dann kommt Frau Dot und singt mit euphemistischer Localfälschung: »Ein Geheimniß wundersüß wohnt in meiner Brust.« Am Schlusse des zweiten Actes gibt »das Geheimniß« Anlaß zu einem raffinirt-effectvollen Scenenbilde: Der Fuhrmann, der sein Weib treulos wähnt, ist gramerfüllt entschlummert; da weist das wohlthätige Heimchen dem Träumenden einen Rosenstrauch, der sich allmälig zum Nest entfaltet, in welchem man einen Postillon en miniature erblickt, des braven Johns künftigen Leibes- und Berufserben. Schließlich singt Frau Dot selbst noch dem Gatten ihr Geheimniß ins Ohr und besänftigt damit seinen letzten Groll. Und wir müssen uns billig eingestehen, daß nicht Dickens’ Heimchen, sondern – Willner’s Storch der eigentliche genius loci gewesen ist. Und darum wundert es uns, daß der Textdichter in seiner »freien« Bearbeitung nicht noch einen Schritt weiter gegangen ist, und statt des Titels »Das Heimchen am Herd« den ihm gewiß mehr zusagenden »Der Storch auf dem Dache« gewählt hat. Wie anheimelnd und lockend hätte das geklungen in die Ohren des Baby-Publicums, auf welches die neue Oper nicht minder zu reflectiren scheint, wie »Hänse! und Gretel«.

Das Drama, welches in das stimmungsvolle Familienidyll vorübergehend hineingrollt, ist nur ein Sturm im Wasserglase. Dot hat eine Freundin, May Fiedling, deren Liebster, Eduard Plummer, vor Jahren in die Welt gezogen ist, um sein Glück zu machen. Der reiche Fabrikant Tackleton, ein alter, widriger Geck, wirbt um das Mädchen, und da Eduard verschollen ist, entschließt sich May, dem alten, hilflosen Vater zu Liebe, zur Hochzeit. Am Abend vorher hat der Fuhrmann einen unbekannten Greis mitgebracht, der sich der braven Dot als Eduard zu erkennen gibt. Er hat in der Fremde sein Glück gemacht und liebt May noch immer; aber er will sich überzeugen, ob ihr Herz noch ihm gehört. Der verkappte Greis und Dot werden im traulichen Gespräche von John, dem Fuhrmann, belauscht, dessen Eifersucht der boshafte Tackleton rege gemacht hat. Doch wissen wir bereits, wie das Heimchen ihn tröstet; und daß schließlich Eduard und May auch vereinigt werden, während der garstige Tackleton das Nachsehen hat und ausgespottet wird, ist selbstverständlich.

Um die Oper zu einem den Abend halblich füllenden Werke zu gestalten, hat Carl Goldmark viel Extramusik liefern müssen. Eine große Ouvertüre und ein umfangreiches Vorspiel zum dritten Acte hat er seinem »Heimchen« auf den Weg mitgegeben. Es ist, als ob ein Paar schwere Pinzgauer vor einen leichten Phaeton gespannt würden. Aber einem Goldmark folgt man willig und gerne auf das Gebiet der absoluten Musik, wo er auch diesmal seine Meisterschaft bewährt. Die bedeutendste und dankbarste Gesangsrolle ist die des Eduard Plummer (Herr Schrödter); in jedem der drei Aufzüge ein effektvolles Lied, dazu ein hübsches Duett mit May, Alles sanglich und in der saftigsten Stimmlage: mehr kann sich der anspruchsvollste Tenor nicht wünschen. Die werthvollste Musiknummer ist freilich der innige Gesang Dot’s: »Ein Geheimniß wundersüß«, dessen süße Harmonien so schüchtern und unentschlossen zwischen G-dur und E-moll schwanken; Alles eitel Stimmung und Poesie. Prächtig gearbeitet sind der humoristische Postchor im ersten und der volksthümliche Hochzeitschor (über die Melodie: »Weißt Du, wie viel Ster[n]lein gehen«) im dritten Act. Guten dramatischen Zug hat die Musik in der Eifersuchtsscene John’s. Heimchens Gezirpe hat Goldmark in gelungener Weise in Tönen zu versinnlichen verstanden. Der diverse Bühnenzauber findet im Orchester, das Goldmark, wie immer, meisterhaft behandelt, entsprechenden Wiederhall. Tackleton’s Couplet bliebe im Interesse der Würde des Werkes besser weg.

Im Ganzen ist Goldmark, als Componist des »Heimchen«, von den idealen Höhen seines »Merlin« mehr in die Niederungen des vulgären Geschmacks herabgestiegen. Gewisse Elemente für den äußeren Erfolg, welche Massenet, Humperdinck und Leoncavallo mit Glück erprobt haben, hat auch er in speculativer Weise seinem Werke eingefügt und sich damit dem großen Publicum sehr gefällig erwiesen. Man ist ihm dafür natürlich auch übermäßig erkenntlich gewesen. So hat denn einmal auch ein wirklich großer Künstler seinen Sensationserfolg; freilich nur um den Preis, daß er diesmal weniger echter Künstler gewesen als sonst.

Aber diese theilweise Selbstverleugnung hat er glücklicherweise nicht bis zum Schlüsse festhalten können. In dem Moment, wo die Oper zu Ende zu sein scheint, fängt der Componist an, unverfälschter Goldmark zu sein. Alle unsere Sinne fängt er ein in dem Zaubergarten seiner Kunst, tiefer als je greift er uns an die Seele, willenlos muß sich jedes feinere Empfinden dem übermächtigen Kunsteindrucke gefangen geben. Der große Musiker wird hier gleichzeitig zum großen Poeten. So klingt die Oper wirklich wie ein süßes Märchen aus.

Und von märchenhafter Pracht ist auch das Scenenbild, welches »Heimchen als Epilog« uns vor die Augen zaubert; wie denn überhaupt auch der dritte Kunstfactor, das Wirken der Regie- und Decorationskünstler unserer Hofoper, sehr bedeutsam in die Wagschale des Erfolges gefallen ist. Ungewöhnlich viel Augenweide bietet die jüngste Opernnovität; üppige Pracht und malerischer Geschmack walten hier im wohltätigen Verein.

Fräulein Renard stellte wieder eine ihrer anheimelnden, liebenswürdigen Frauengestalten auf die Bühne; den Kosenamen Dot (zu deutsch: ein Pünktchen) rechtfertigte sie wohl nicht, aber sie sang und spielte entzückend. Die Herren Ritter und Schrödter waren die denkbar besten Vertreter der beiden männlichen Hauptrollen. Fräulein Abendroth, als May, war die schwierigste Gesangsrolle zugefallen; die Partie ist in einer fast unmöglichen Lage geschrieben, und was der strebsamen Künstlerin etwa nicht gelang, sollte ihr billiger Weise nicht angerechnet werden. Herr v. Reichenberg stattete den alten Gecken Tuckleton mit gutem Humor und drolliger Maske aus. Chor und Orchester hatten einen Ehrenabend, und Director Jahn am Dirigentenpulte erwies sich als der gute Genius des Werkes, das er mit der peinlichsten Sorgfalt und dem sichersten Kunstempfinden einstudirt und auf die Bühne gestellt hatte.

Der Erfolg war vom zweiten Acte an ein stürmischer, voll einschlagender. Es gab viel Applaus sowohl bei offener Scene, als auch nach den Actschlüssen. Das Vorspiel zum dritten Acte, eine brillante Orchesterleistung der Philharmoniker, mußte über unabweisliches Begehren des Publikums wiederholt werden; es hat diese Ehre jedenfalls eher verdient, als das Cavalleria-Intermezzo. Goldmark selbst erschien nach dem zweiten und dritten Acte unzählige Male vor dem Vorhang, um die Ovationen des Publicums entgegenzunehmen. »Das Heimchen am Herd« wird sich zweifellos auch der Hofoper als wohlthätiger Hausgeist erweisen. Albert Kauders.
(Neues Wiener Journal vom 22. März 1896)