… ein Zugstück gewonnen …

Hofoperntheater.

»Das Heimchen am Herde«. Oper in drei Acten von Karl Goldmark.

Ed. H. Man wollte es gar nicht glauben. Hat Goldmark sich wirklich Dickens’ friedliches Heimchen auserwählt für seine neue Oper? Das klang ungefähr so überraschend, wie kurz zuvor die Nachricht, der alte Verdi componire eine komische Oper »Falstaff«. Denn gleich Verdi ist Goldmark eine eminent pathetische Natur, welcher man so wenig wie früher Bellini und Spohr einen heiteren, kleinbürgerlichen Stoff zugemuthet hätte. In der »Königin von Saba« die Feierlichkeit und leidenschaftliche Gluth des Orients, in »Merlin« die mit dämonischen Elementen versetzte mythische Ritterwelt – in beiden Opern auch äußerlich die berauschende Pracht fremdartiger Gewandung und Landschaft. Selbst in seinen Concert-Ouvertüren blieb Goldmark der Poet des tragischen Kampfes und Untergangs : Penthesilea, Sakuntala, Prometheus, Sappho. Und nun plötzlich diese Einkehr bei gutmüthigen armen Landleuten, wo Keinem die Leber ausgehackt, Niemand von Amazonenhänden zerfleischt oder von Liebesnoth zum leukadischen Felsen getrieben wird! »Das Heimchen am Herde« ist eine der populären Geschichten, wie sie Dickens eine zeitlang alljährlich seinen Lesern zum Weihnachtsfest bescheerte. Neben den »Weihnachtsglocken« hat das »Heimchen« den größten Erfolg und in England beispiellose Popularität erlangt. Dickens war in das Thema förmlich verliebt. »Es würde,« schrieb er 1845 an John Forster, »ein schöner und zarter Gedanke für ein Weihnachtsbuch sein, das Heimchen zu einem kleinen Hausgott zu machen, welcher schweigt bei dem Unrecht und dem Schmerz der Geschichte und wieder laut wird, wenn Alles, gut und glücklich abläuft.« Er hatte sich nicht getäuscht. Thackeray nannte das Buch »eine nationale Wohlthat und für Jeden, der es liest, eine persönliche Gunst«. Für die Bühne ist, meines Wissens, noch keine von Dickens’ Erzählungen bearbeitet worden, wenn auch der Dichter selbst etliche Kleinigkeiten für ein Liebhaber-Theater geschrieben und darin selbst mitgespielt hat. Der große Erfolg von Goldmark’s Oper beweist, daß der Componist einen glücklichen Griff gethan und an A. Willner einen dankenswerthen Bearbeiter gefunden hat.

Marie Renard (»Dot«)

Bei Dickens spielt die Geschichte am Weihnachtsabend. Der Fuhrmann John Peerybingle, der die Post aus dem nächsten Städtchen bringt, wird von seiner muntern jungen Frau Marie – er ruft sie bei dem Scherznamen Dot (Punkt, Klecks) – und ihrem Knäblein erwartet. Nachdem er die ungeduldige Menge, die nach Briefen und Paketen drängt, befriedigt hat, erinnert er sich, daß ein Fremder, den er im Postwagen mitgebracht, noch draußen stehe. Es ist ein stiller alter Herr, etwas erfroren und so taub, daß er jeder Frage, jeder Ansprache ausweicht. Er hat guten Grund dafür, denn er will nicht erkannt sein. In der Verkleidung steckt nämlich Edward Plummer, ein Jugendgespiele Dot’s. Bor einigen Jahren hat er als Matrose die Reise über das Weltmeer angetreten und daheim eine Geliebte zurückgelassen, die arme May, der er die Treue bewahrt. Die Nachricht, daß sie sich einem reichen alten Geizhals, Tackleton, verlobt habe, treibt ihn nach Hause, wo er vorerst unerkannt sich überzeugen will. Mit einem leisen Wort gibt er sich Dot zu erkennen. Sie erbleicht, faßt sich aber schnell und bewahrt das Geheimniß vor ihrem Manne, dessen zuläppische Ehrlichkeit den Plan vereiteln könnte. Wer zuerst Verdacht schöpft und den guten John mißtrauisch macht, ist Tackleton, der alte Spielwaaren-Händler, der sich der verwaisten May als Bräutigam aufdringt. Er zieht John hinaus, und Beide belauschen, wie Dot mit dem Fremden eifrig und vertraut spricht, ihn sogar in der Freude des unverhofften Wiederfindens umarmt. John, von Schmerz und Eifersucht überwältigt, beschließt, den Fremden am nächsten Tage zu tödten und das untreue Weib ziehen zn lassen. Da beginnt das Heimchen am Herd zu zirpen. »Kein Ton, den er hätte hören können, keine menschliche Stimme, nicht einmal die ihre, würde ihn so bewegt, so ergriffen und beruhigt haben.« Das Gespräch, das jetzt das tröstende Heimchen mit John führt (der Librettist hat es in einen Monolog verwandelt), gehört zu den sinnigsten, hübschesten Stellen der Erzählung. Man weiß ja, wie bei Dickens Alles Leben und Person wird. In der Fähigkeit, Thiere reden zu machen, ist er unvergleichlich. Die zahlreichen Vögel in seinen Romanen, der Rabe Barnaby’s, das Hündchen Jip im Copperfield, unser Heimchen am Herd sind lebensvolle Genrebilder. John wird durch einen Traum getröstet und bezwingt sich, bis er andern Tages erfährt, daß der Fremde kein Anderer als Edward sei. Dieser weiß durch eine geschickte Verschwörung unter den Burschen des Dorfes Tackleton an dessen Hochzeitstag‘ zurückzuhalten; er selber fährt in Tackleton’s Wagen mit May zur Kirche, von wo sie als junges Ehepaar zurückkehren.

Herrn A. Willner gebührt die Anerkennung, seinem Componisten ein sehr dankbares Libretto geliefert zu haben. Die Umformung dieser Erzählung zur Oper hat allerdings mancherlei Aenderungen nothwendig gemacht. So führt uns Dickens einige originelle, scharfgezeichnete Personen vor, welche Herr Willner fortließ, weil sie in die eigentliche Handlung nicht eingreifen, wie zum Beispiel der alte Caleb, ein bei Tackleton Beschäftigter armer Arbeiter, der seine blinde Tochter Bertha in dem glücklichen Wahn erhält, sie hätte eine sehr schöne Wohnung und gute Kleider. Auch hat der Librettist die Geschichte aus dem Duft der Christbäume und der glitzernden Schneelandschaft in den Sommer verlegt, vielleicht um das Heimchen, das doch ans Herdfeuer gehört, aus einem Rosenbusch hervortreten zu lassen. Dieser Zug, wie überhaupt die Ausbreitung der Elfenscenen verräth den effectkundigen Balletdichter. Eine starke Unwahrscheinlichkeit hat er sich mit dem verkleideten Edward erlaubt. Dieser singt in Goldmark’s Oper mit frischer Tenorstimme ein langes Seemannslied vor seiner Geliebten, und – sie erkennt ihn nicht, singt sogar die Schlußstrophe mit. Ja, Alle halten ihn trotz seines jugendlichen Organs für einen alten Mann! Noch mehr: im dritten Acte singt er wieder ein Lied voll deutlichster persönlicher Anspielungen, und seine Geliebte ahnt noch immer nicht, wer neben ihr steht! Dazu gehört ein wahrer Köhlerglaube, wenn dieser Ausdruck heute, wo die Köhler auch nicht mehr Alles glauben, gestattet ist. Eine Entschuldigung liegt nur in der zwingenden musikalischen Rücksicht auf den ersten Tenor. Aber eine andere, ganz willkürliche Aenderung des Originals, für die nicht die geringste Nöthigung vorlag, erscheint uns um so bedenklicher. Herr Willner beseitigt das Söhnchen John’s (das er allenfalls etwas älter machen konnte) und versetzt dafür Frau Dot in gesegnete Umstände. Für die Bühne sind derlei Umstände kein Segen. Am wenigsten, wenn sie fortwährend so nachdrücklich besprochen werden. Gleich zu Anfang erzählt das Heimchen dem Publicum, daß Frau Dot in der Hoffnung ist. Hierauf singt Frau Dot eine ganze Arie darüber, daß sie in der Hoffnung ist. Im dritten Acte widmet sie besagter Hoffnung ein eigenes Duett mit ihrem Manne, welcher darob in ein bei armen Fuhrleuten nur selten vorkommendes Entzücken geräth. Unser Textdichter gefällt sich ungemein in dieser empfindsamen Hebammenlyrik; mir will sie weder zart noch geschmackvoll vorkommen. Auf die Bühne gehören nur fertige Kinder.

Also Goldmark Componist einer kleinen, gemüthlichen Dorfgeschichte! Nicht wenig überrascht von diesem Stoff, waren wir noch neugieriger darauf wie gerade Goldmark ihm musikalisch beikommen werde. Natürlich war er sich darüber klar, daß die Hütte des Fuhrmanns ein ganz anderes Colorit erheischt, als König Salomon’s Palast oder der Zaubergarten Merlin’s. Aber wird seine Natur es hergeben, wird er sich so weit verleugnen, verwandeln können? In der That, die Metamorphose ist ihm erstaunlich gelungen. Goldmark hat seine überströmende Lyrik gleichsam in Röhren gefaßt und sein volltönendes Pathos zwanglos auf den Ton einer schlichten Haus- und Herzensgeschichte herabgestimmt. Im »Heimchen« waltet eine künstlerischc Selbstverleugnung, ein ruhiges Ebenmaß, das, ich wiederhole es, Wenige von Goldmark erwartet hätten. Was die neue Oper auf den ersten Blick auszeichnet, ist ihre Abkehr vom modernen »Musikdrama«, von dem angeblich allein dramatischen und alleinseligmachenden System Wagner’s. Im „Heimchen« wechseln Strophenlieder, Arien, Duette und Chöre: freie Parlandosätze flechten sich in die Cantilene; Liebende und Eheleute geniren sich nicht, in Terzen zu singen; einzelne Wörter und Sätze werden ohneweiters wiederholt, mitunter sogar (wie in John’s »Alt und jung«) sehr oft. Die Melodien, meistens sangbar und einfach, bewegen sich in faßlichen Rhythmen und Perioden; die Singstimmen herrschen, das Orchester begleitet – allerdings sehr teilnehmend. So predigt denn das »Heimchen« die nie veraltende Wahrheit, daß Musik ohne die Gesetze der Form und Symmetrie nicht existiren kann, soll sie nicht zu bloßem Sinnenrausch und pathologischem Nervenreiz herabsinken. Was uns an Goldmark’s neuer Oper zunächst erfreut und noch Tausende erfreuen wird, ist der natürliche Ausdruck der Empfindung. Goldmark, welcher (»un chercheur, wie die Franzosen sage») in seinen früheren Werken gerne auf die Suche nach Appartem, Ungewöhnlichem ausging, dem jedes starke Gefühl leicht in Ekstase, jedes Reizmittel in ätzende Schärfe überschlug, derselbe Goldmark findet im »Heimchen« den liebenswürdigen, maßvollen Ton des Familienstückes und weiß ihn, sogar mit glücklichen Abstechern ins Komische, festzuhalten. Wahrheit des Ausdruckes ist die erste Forderung an den Operncomponisten, aber nicht die einzige. Finden wir sie ja auch in manchen sehr reizlosen Gesängen erfüllt. Es muß noch ein positiver, schöpferischer Factor hinzutreten. Und in diesem Betracht läßt sich nicht leugnen, daß die Gesänge im »Heimchen« uns Manches schuldig bleiben. Sie klingen nicht alle neu und originell. Ich erinnere beispielsweise an May’s Strophe »Einst war’s so schön«, an Dot’s »Ein junges Weib«, an Edward’s »Ach Heimat« und »O eitel Glück«; unter den heiteren Gesangsstücken an John’s Fuhrmannslied, an Tackleton’s Entree und seine Bräutigamsstrophen im dritten Acte, an die Chöre »Guten Abend«, »Hurrah, Herr Bräutigam« und »Lauf nur, lauf nur!« Die eigentlich melodische Erfindung im »Heimchen« ist etwas dürftig; sie schmeckt stellenweise nach Lortzing, ja noch weiter zurück nach Dittersdorf und Wenzel Müller. Und dennoch erfreute sich das Publicum herzhaft all diesen Gesangsstücken, die in ihrer rothwangigen Gesundheit sich nicht fürchten vor dem drohenden Schatten des jungen Goldmark. Daß solcher musikalischen Einfalt nicht das Salz fehle, dafür sorgt die Begleitung. Durch ein stets charakteristisches und interessantes Orchester, das uns bald durch satte Farben, bald durch zarte Lichter entzückt, weiß Goldmark auch dürftige Zeichnungen schön und lebensvoll zu coloriren. Hand in Hand mit diesem Klangreiz wirkt seine harmonische Kunst. Man weiß, wie meisterlich Goldmark diese handhabt; sie würzt auch das »Heimchen«, und recht stark, wird aber nie so beißend, wie manchmal in seinen früheren Compositionen. Immerhin erkennen wir an einzelnen Manieren (und Goldmark hat deren wie jeder Künstler) den »Hauscomponisten der Königin von Saba«, wie er einmal einem Fremden vorgestellt wurde. Die scharfen Modulationen, das Nisten in chromatischen und enharmonischen Gängen, insbesondere die auf- und niederrauschende Jagd chromatischer Accordfolgen! Diese Figur ist das theiknehmende Heimchen am Goldmark’schen Herde, das sich jederzeit meldet, wenn etwas lost ist. Frohes oder Schmerzliches. Wir hören es lärmen, wenn John die Eifersucht quält und ebenso, wenn die Bauern mit ihren Postpaketeit forteilen. Das Glänzendste als Orchester-Zauberer vollbringt aber Goldmark auf seinem eigensten Gebiet, der Welt des Phantastischen. Die Elfenchöre (»Zum Tanz!«) mit dem Traumbild am Schluß des zweiten Actes und die »Apotheose« (um in der Sprache des Ballets zu reden, wohin es auch gehört) schimmern in märchenhaftem Glanz. Und das so enthusiastisch aufgenommene Vorspiel zum dritten Act, welches die lustigen, Chor- und Tanzmotive der Tackleton-Scenen vorausnimmt und in anwachsender Stärke und Schnelligkeit bis zur Berauschung steigert! Gern hätte ich auf manche schöne Einzelheit noch hingewiesen (wie auf das prächtige Es-dur Quintett), wäre mein Bericht nicht schon ungebührlich angewachsen! Es muß auch der Ausführung ihr Recht widerfahren.

Die Novität ist von Herrn Director Jahn sorgfältig vorbereitet und dirigirt vorbereitet und dirigirt, überdies sehr hübsch ausgestattet. Fräulein Renard singt die Frau Dot mit ungeschminkter Empfindung und liebenswürdiger Laune, Herr Schrödter (der nur zu jung aussieht in der Verkleidung) den Edward frisch und beherzt. Herr Ritter ist ein gemüthvoller wackerer John, Herr v. Reichenberg ein ergötzlich komischer Tackleton. Neben diesem vortrefflichen Quartett bietet Frau Forster als Elfe ein entzückendes Bild, und Fräulein Abendroth als sentimentale May eine sehr annehmbare Leistung, wie fast immer, wo sie nicht in erster Linie steht. Die Oper erzielte einen außerordentlichen Erfolg. Das Intermezzo vor dem dritten Acte (eigentlich eine ausgewachsene Ouvertüre) mußte wiederholt werden – eine Virtuosenleistung unseres berühmten Orchesters. Alle Mitwirkenden und mit ihnen Goldmark wurden nach den Actschlüssen wiederholt stürmisch gerufen. Die Oper hat an dem »Heimchen« ein Zugstück gewonnen, das noch kräftiger wirken müßte, wenn das allzu schleppende Tempo der sentimentalen Nummern etwas beschleunigt und einige ermüdende Tänze beseitigt würden. Unsere Freude über Goldmark’s neuesten Erfolg ist stark und aufrichtig. Sie gilt nicht nur dem ausgezeichneten Künstler, sondern ebenso sehr dem Manne, dessen charaktervolle, jeder Reclame abholde Persönlichkeit in so hohem Grade die allgemeine Achtung und Sympathie genießt. (Neue Freie Presse vom 22. März 1896)